Experten
24 . 05 . 19

Warum Menschen Printmedien heute mehr als jemals zuvor brauchen

Worte von: Print Power
Der Experte und Bestseller-Autor für Branding Martin Lindstrom erklärt, warum wir uns in einer Welt von unzähligen Bildschirmen nach mehr zwischenmenschlichen Begegnungen sehnen.
MARTIN LINDSTROM Ministry Common Sense.jpg

PRINTPOWER IM ÜBERBLICK:

  • Die Gesellschaft sehnt sich nach taktilen Interaktionen. Das steigert unsere Empfänglichkeit für kreatives, papierbasiertes Verpackungsdesign und Print-Marketing.
  • Im Gegensatz zu anderen Medien prägen sich Printmedien und Printwerbung mit bis zu 70 Prozent nachhaltiger ein – Tendenz steigend.
  • Die Geschäftsführer der weltweit größten Unternehmen müssen sich die Auswirkung ihrer Marken auf die menschlichen Sinne bewusst machen. Außerdem müssen wir einen Maßstab entwickeln, der es uns erlaubt die tatsächliche Effektivität von Marketing zu ermitteln.

Martin Lindstrom gründete vor knapp 20 Jahren die Werbeagentur Lindstrom. Schon damals war er der Meinung, dass für Marken ein Kundenerlebnis essentiell ist, das alle fünf Sinne anspricht.

Seitdem hat er sieben Bücher darüber geschrieben, wie Marken aufgebaut werden und welchen Einfluss diese auf uns haben. Er leitete die weltweit umfassendste Neuromarketing-Studie, welche ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung des New York Times Bestsellers Buyology fand einer Exploration von Faktoren, die unser Kaufverhalten erklärt.

Heute ist Lindstrom fest davon überzeugt, dass zu viele Unternehmen sich von digitalen KPIs und Prozessen blenden und so die Effizienz von Sinnesbegegnungen unberücksichtigt lassen.

Wir haben mit Martin darüber gesprochen, warum Berührungen so wichtig sind (unabhängig davon, ob man nun ein Mensch oder eine Ratte ist), über seine Mission, taktile Interaktionen mit Marken zu steigern, und die Notwendigkeit eines neuen Maßstabs zur Ermittlung der nicht zu unterschätzenden irrationalen Auswirkungen von Marketing.

Die Unzufriedenheit von Kunden über digitale Werbung und AdBlocker steigt dramatisch. Kann Print dieses Phänomen eindämmen?

Früher galt Print als Kommunikationsmedium, jetzt ist es zu einer regelrecht kontinuierlichen Stimulation der Kommunikation und der Sinne geworden.

Papier sticht heraus. Eine Studie zeigt, dass Inhalte auf Papier bis zu 70 Prozent einprägsamer sind als bei anderen Medien. Das ist einfach erklärt. Nimmt man beispielsweise die Abfahrtstafel am Flughafen, die von einer Seite zur nächsten springt: Bevor man hier die benötigte Information erhält, muss das Auge immens viele Informationen erfassen. Unser Gehirn ist darauf programmiert Informationen, die auf Bildschirmen auftauchen, oberflächlich zu lesen. Studien zeigen jetzt, dass wir uns an Dinge besser erinnern, wenn wir etwas auf Papier lesen und somit emotional involvierter sind.

Print hat einen anhaltenden Einfluss; es ist eher so, dass ich die Kontrolle über das Medium habe und nicht umgekehrt.

Papier hat drei Stärken: Die erste ist die Stimulation der Sinneskanäle; zweitens gehen Daten nicht verloren; und drittens ist jeder digital unterwegs – so fällt auf, welche Marken einen anderen Weg einschlagen. Die Message sticht im Print stärker heraus.

Welche Aspekte der heutigen Konsumentenlandschaft schaffen die Rahmenbedingungen für ein Aufleben der Printmedien?

Print hat definitiv einen Vorteil gegenüber anderen Kanälen. Man muss den Sachverhalt jedoch aus einem übergreifenderen Blickwinkel betrachten. Lassen Sie uns einen kleinen Exkurs in die Psychologie von Print machen. Vor geraumer Zeit wurde ein Experiment mit Ratten gemacht, in dem zwei Versuchsgruppen auf die Auswirkung von taktilen Empfindungen untersucht wurden. Die erste Versuchsgruppe wurde stündlich vom Forschungsteam berührt; die zweite hingegen kein einziges Mal während der zweimonatigen Versuchsphase. Nach diesen zwei Monaten starben die nicht berührten Ratten, wohingegen diejenigen, die stündlich berührt worden waren, glücklich weiter lebten.

Das erklärt in vielerlei Hinsicht, was heute in unserer Gesellschaft passiert. Aufgrund unserer digitalen Besessenheit haben wir unsere taktilen Interaktionen so drastisch gesenkt, dass es gefährlich werden kann. Menschen entfernen sich mehr und mehr von lokalen Gemeinschaften, die nebenbei bemerkt aussterben. Deshalb gibt es auch keine zwischenmenschlichen Interaktionen mehr. Bildschirme sind das einzige, was Menschen noch berühren.

Denken wir an das Rattenexperiment zurück, ist es absolut verständlich, dass sich die Gesellschaft nach taktilen Interaktionen sehnt. In den letzten zehn Jahren wurden in Japan Menschen in Alters- und Seniorenheimen gebeten Haustiere anzuschaffen – teils Roboter und teils echte Tiere. Und in Tokyo gibt es das Konzept der Haustiercafés, in denen man während der Mittagspause Tiere streicheln kann.

Aufgrund ihrer digitalen Besessenheit fängt unsere Gesellschaft an, die zwischenmenschlichen taktilen Interaktionen auf gefährliche Art und Weise zu reduzieren.
Martin Lindstrom
Gründer und Vorsitzender, Lindstrom Company

Denken Sie, dass Marketingexperten und Mediaplaner offen dafür sind das Engagement zu erhöhen, indem sie mehrere Sinne gleichzeitig ansprechen?

Wenn überhaupt, nehmen sich nur sehr wenige die Zeit, sich tiefgehend mit der Psychologie der verschiedenen Kanäle zu befassen. Agenturen für Mediaplanung fokussieren sich auf Reichweite und nur wenige fragen sich: Welchen konkreten Einfluss hat der Kanal auf die Gesellschaft und was macht es mit unserem Gehirn?

Anscheinend nehmen diese Leute an, dass wir von Grund auf rational eingestellte Individuen sind. Doch all unsere Studien, die auf Neurowissenschaft beruhen, zeigen, dass circa 85 Prozent unserer Handlungen unterbewusst und irrational und nur 15 Prozent aller Handlungen rational verlaufen.

Wenn taktile Erfahrungen so essentiell für effektives Marketing sind – sollten wir dann nicht die Metrik für das Engagement anpassen und das Ansprechen verschiedener Sinne einbeziehen?

Die Papierindustrie sollte einen Begriff konzipieren, um diesen Einfluss zu messen. Das könnte zu einem globalen Standard werden, welcher unabhängig kontrolliert wird und es der Industrie ermöglicht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. So etwas existiert gerade nicht, ich habe jedenfalls noch nichts dergleichen gesehen.

In meinem Buch Brand Sense habe ich ein “Sensogram” entwickelt – ein Tool, um sich die Auswirkungen von Design bewusst zu machen und diese messen zu können. Wir arbeiten mit den global renommiertesten Unternehmen zusammen, aber wenn ich mit ihnen über dieses Thema rede, schauen sie mich wie ein vom Scheinwerferlicht verschrecktes Reh an. Ich spreche hier von den CEOs der weltweit größten Unternehmen für abgepackte und schnell umschlagende Waren – aber wenn ich über die Auswirkungen auf unsere Sinne spreche, scheint es so, als hätten sie noch nie zuvor davon gehört. 

Das erstaunt mich jedes Mal, weil diese Menschen täglich Millionen von Verpackungen produzieren, aber keine Ahnung von den Auswirkungen des taktilen Marketings und der Sinneswahrnehmungen haben. Es ist offensichtlich, dass dieses Thema  einfach nicht auf ihrem Radar ist. Deswegen ist ein ein Maßstab hierfür sicher eine gute Idee. Man sollte jedoch bedenken, dass bei dem Thema noch sehr viel mehr Arbeit vor uns liegt.